Shaheed sitzt in einem Zelt.

Shahed, 12 Jahre

Irak: 2017

Die kleine Shahed verlor ein Bein, den Bruder, die Mutter – weil der sogenannte Islamische Staat (IS) ihre Heimat Mossul mit Sprengsätzen verseucht hat. Es ist eine perfide Taktik, Zivilisten als Schutzschilde zu missbrauchen. Selbst in Teddybären versteckt der IS selbstgebaute Bomben. Die Zivilbevölkerung leidet unter Beschuss aller Kriegsparteien.

Shahed schließt die Augen, breitet die Arme aus. Es klappt, sie wackelt nicht. Wie eine Ballerina steht das Mädchen im dämmrigen Licht des Zelts. Auf einem Bein. Dort, wo das andere sein sollte, ist ein Knoten in der Jogginghose. Ein Lächeln huscht über das Gesicht der Zwölfjährigen. Es ist flüchtig.

„Bravo“, sagt der Physiotherapeut der Hilfsorganisation Handicap International. Ihr Vater klatscht in die Hände. „Sehr schön. Aber jetzt, meine Große, geh mit deinen Geschwistern zu den Verwandten.“ So hüpft die Zwölfjährige auf dem linken Bein an der Hand ihres Cousins aus dem Zelt.

Ihre Geschwister Ahad, acht, Raghad, sieben, und Raad, vier Jahre alt, stapfen missmutig hinterher. Ahad, dessen linkes Auge immer noch geschwollen ist. Raad mit einer verschorften Wunde im Gesicht. Die kleine Raghad, die sich ängstlich an ihren ältesten Bruder schmiegt.
Vater Firas hat ein müdes Gesicht, die Augen liegen tief. „Meine Kinder wissen nicht, dass ihre Mutter nicht mehr unter uns ist.“ Der 42-Jährige spricht langsam, fast flüsternd. Er wartet, bis die Kinder in einer der Zeltreihen verschwinden. Blauweiße Halbtonnen, die sich im Hasansham-Camp endlos zwischen Staub und Felsen aneinanderreihen.

Vater Firas erzählt vom 9. März. Dem Tag, an dem Shahed ihr rechtes Bein verlor, ihren elfjährigen Bruder und ihre Mutter. Schwere Granaten schlagen an diesem Tag im Westen von Mossul ein. Dem Teil der Stadt, den der IS zu diesem Zeitpunkt noch immer hält. Firas Familie sitzt im Keller. Der Boden, die Wände, alles zittert bei jedem Einschlag. „Wir hatten Angst, bei einem Treffer lebendig begraben zu werden“, sagt der Vater.

Als die Familie vor die Haustür tritt, sehen sie die Nachbarn fliehen. „Nehmt euch an den Händen und lauft. Lauft, so schnell ihr könnt“, ruft Firas. So hetzen sie die Straße entlang. Weit kommen sie nicht. Zwei Explosionen schleudern Menschen wie Puppen in die Luft. Splitter, Steine, Eisenteile zischen durch die Luft. Granateinschläge waren das nicht. Der IS hat links und rechts der Straße zwei Spreng­sätze in Autos platziert. Firas Familie ist in die Falle getappt.

Die Menschen in West-Mossul wissen: Wer fliehen will, für den gibt es keine Gnade. Die IS-Kämpfer brauchen die Zivilbevölkerung als lebenden Schutzschild gegen die anstehende Offensive der Regierungstruppen. Deshalb darf niemand raus – und die selbst gebauten Bomben helfen den Kämpfern auf grausame Weise, die Stellung zu halten. Sie sind eine traurige Spezialität des IS. Selbst in Leichen wurden die Sprengsätze schon platziert – oder in Teddys. In den Häusern, deren Bewohner geflohen sind. Und in geparkten Autos.

Als sich der Staub legt, hat Firas ein totes Kind an seiner Hand. Der Bauch des Elfjährigen ist aufgerissen. Neben ihm weint Raghad. An der anderen Hand hält sich Ahad fest. Sein Gesicht ist voller Blut. Firas ruft nach seiner Frau. Nach den anderen Kindern. Keine Antwort, sie sind verschwunden. Bald werden Kämpfer kommen, das weiß Firas. Er hat keine Zeit zu suchen, nimmt Raghad in den Arm, die andere Hand greift nach Ahad. Er flieht, um sie zu retten.

Wir hatten Angst, bei einem Treffer lebendig begraben zu werden.

Diese Geschichte ist Teil unserer Wanderausstellung erschüttert.
Die Ausstellung können Sie gerne ausleihen und mithelfen, diese Geschichten und ihre starken Botschaften zu verbreiten. Gerne kommt der Autor Till Mayer zu einem Vortrag.

Wanderausstellung ausleihen
Weitere Portraits anschauen

Die ganze Geschichte und mehr Fotos finden Sie auf Spiegel Online.

So unterstützt Handicap International

Durch einen Sprengsatz verlor Shahed ein Bein, den Bruder und ihre Mutter. Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.

Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.

Seit ihrer Flucht aus Mossul lebt Shahed zusammen mit ihrem Vater und drei Geschwistern im Hasansham Flüchtlingscamp. Dort wird sie von Handicap International mit psychosozialer Betreuung und Rehabilitation unterstützt. Seit der Gründung von Handicap International im Jahr 1982 sind Reha-Leistungen für Menschen mit Behinderung eine zentrale Aufgabe. Fachkräfte werden vor Ort ausgebildet und nutzen lokal verfügbare Materialien, Kompetenzen und Infrastrukturen. Hilfsmittel, wie zum Beispiel Prothesen, Orthesen, Rollstühle oder Hörgeräte, sowie psychosoziale Unterstützung helfen den Betroffenen wieder selbstständig ins Leben zurückzufinden.